Der zweite Tag begann erneut holprig: Über 80 Meter Hürden blieb er bis zur letzten Hürde gut im Rhythmus, doch ein Fehler an der letzten Hürde kostete wertvolle Zeit – nur 13,56 Sekunden. Nun blieben ihm noch vier Disziplinen, um seine Ziele zu erreichen. Es folgte eine spektakuläre Wende. Schon beim Einspringen im Hochsprung überquerte er mühelos Höhen, an denen die Konkurrenz scheiterte. Schließlich hatte er vor zwei Wochen beim Hochsprungcamp des Nachwuchsbundestrainers bereits bewiesen, dass er zu den besten Hochspringern Deutschlands zählt. Im Wettkampf übersprang er 1,70 Meter, 1,73 Meter und auch die neue Bestleistung von 1,76 Meter blitzsauber im ersten Versuch. Danach war die Luft raus und nur zwei weitere Athleten meisterten diese Höhe, sodass er wieder zur Spitzengruppe gehörte.
Weiter ging es im Speerwurf, wo er gleich im ersten Versuch eine neue Bestleistung von 43 Metern aufstellte. So einen Auftakt hätte er sich am ersten Tag im Diskuswurf und Kugelstoßen gewünscht – der gelungene Wurf setzte neue Kräfte frei. Nach einem ähnlich weiten zweiten Versuch griff er selbstbewusst zu einem Speer mit verändertem Schwerpunkt für große Weiten, ließ das Publikum mitklatschen und beflügelte sich zu 47,23 Metern! Damit distanzierte er den Zweitplatzierten in dieser Disziplin um etwa fünf Meter. „Keine Ahnung, wo er den hergeholt hat“, kommentierte Trainer Ralf Reinhard überrascht. Rafael ist damit nun zweitbester Speerwerfer Deutschlands in seiner Altersklasse – als Mehrkämpfer wohlgemerkt.
Die letzte technische Disziplin vor dem abschließenden 1000-Meter-Lauf war der Weitsprung. Mit einer Bestleistung von 5,64 Metern angereist, hätte er sich mit 5,80 Metern zufriedengegeben. Doch im ersten Sprung kam er direkt auf 5,99 Meter. Den fehlenden Zentimeter wollte er nicht auf sich sitzen lassen, beschleunigte so schnell wie nie zuvor und katapultierte sich auf phänomenale 6,10 Meter. Auch in der dritten Disziplin in Folge war er der beste Athlet und rangiert nun in der Deutschen Bestenliste ebenfalls auf Rang zwei unter den Spezialisten.
Vor dem abschließenden 1000-Meter-Lauf lag er auf dem Bronzerang, den es zu verteidigen galt. Trainer Ralf Reinhard rechnete aus, dass sein direkter Konkurrent Willy Wienareck (VfL Brandenburg) elf Sekunden schneller sein durfte. Wienarecks Bestzeit lag bei 3:23 Minuten, Hesses bei 3:36 Minuten - womit er den dritten Platz nicht hätte halten können. Reinhard gab ihm eine Tempovorgabe für 3:26 Minuten, die Rafael meisterhaft umsetze: Mit einem starken Schlussspurt kam er bei 3:23 Minuten ins Ziel. Wienareck unterbot zwar seine Bestzeit mit 3:18 Minuten, doch Rafael verteidigte mit Kampfgeist die Bronzemedaille. „Ich habe vor dem Lauf nicht mehr mit der Medaille gerechnet, weil nicht dachte, dass ich so schnell laufen kann“ gab Hesse überwältigt zu.
Mit fantastischen 4.902 Punkten pulverisierte er seine alte Bestleistung um 350 Zähler und holte als einziger Westfale eine Einzelmedaille bei diesen Deutschen Meisterschaften. Gold sicherte sich Lokalmatador Marik Julian Scholz vom TSV Bayer Leverkusen (5.148 Punkte), Silber ging an Benno Siebert vom SV Halle (5.123 Punkte). Nach diesem nervenaufreibenden und kräftezehrenden Wochenende ließ sich Rafael ausgelassen von seiner zahlreich angereisten Familie und Freunden feiern, die ihn am zweiten Tag spürbar beflügelt hatten.
Dass Leichtathletik auch Teamarbeit bedeutet, zeigt das Trainerteam des LAZ Soest, welches Rafael bei den zahlreichen Trainingseinheiten betreut: Wurfspezialist Ralf Reinhard, Sprungspezialistin Annika Straub sowie Jana Klee und Florian Wendt. Sie wussten, dass eine Medaille möglich war, wenn alles passte und er die Nervosität ablegen konnte – und freuten sich nun über den glanzvollen Triumph ihres Schützlings.